M. Menrath: Unter dem Nordlicht

Cover
Titel
Unter dem Nordlicht. Indianer aus Kanada erzählen von Ihrem Land


Autor(en)
Menrath, Manuel
Erschienen
Berlin 2020:
Anzahl Seiten
479 S.
von
Yves Schmitz, Universität Marburg

Dieses in vielen Aspekten unkonventionelle Buch hat sich zum Ziel gesetzt, die Geschichte und die Kultur der indigenen Bevölkerung des nördlichen Ontarios, insbesondere der Cree und Ojibwe, zu beschreiben. Dafür hat Menrath das Einverständnis der NAN (Nishnawbe Aski Nation) eingeholt. So will der Autor zu einem besseren Verständnis der gesamten indigenen Bevölkerung Kanadas im deutschsprachigen Raum beitragen. Ziel Menraths ist es, «wissenschaftliche Erkenntnisse mit […] persönlichen Empfindungen zu verbinden und die Betroffenen als handelnde Subjekte zu Wort kommen zu lassen» (S. 418). Insgesamt kann man feststellen, dass dem Autor die Darstellung der beiden letzten Aspekte sehr gut und anschaulich gelungen ist.

Menraths Werk liest sich wie ein Reisebericht. Man begleitet den Autor zu Interviews und Erlebnissen mit verschiedenen GesprächspartnerInnen durch das ländliche Kanada, wobei auch immer wieder Exkurse zu den jeweiligen Gesprächsthemen gemacht werden. Abgerundet wird das Werk mit illustrierenden Fotografien und einem ungemein nützlichen, ausführlichen Glossar. Das Buch beschäftigt sich in fünf Kapiteln mit einer beeindruckenden Bandbreite an Themen: Religion und Spiritualität, Gesundheitswesen und traditionelle Heilungsmethoden, Umweltkatastrophen, das indigene Verhältnis zur Natur, Technologie, Wissenschaft, Justiz, Wirtschaft, Suchtprobleme durch Drogen- und Alkoholmissbrauch, Auswirkungen von Grossprojekten wie zum Beispiel Staudämmen, den alltäglichen Rassismus sowie generell die Wahrnehmung der Indigenen durch die Mehrheitsgesellschaft und ihr Platz in der nationalen Geschichtsschreibung. Auch das Geschichtsverständnis der Indigenen wird adressiert. Die Thematik wird durch einen historischen Überblick über die Beziehungen zwischen der indigenen und weissen Bevölkerung in Kanada seit dem 17. Jahrhundert komplettiert, wobei vor allem die Gewalt an den residential schools und die dadurch ausgelösten Identitätskrisen angeprangert werden. Der Autor stellt immer wieder die koloniale Diskriminierung, Bevormundung, Ausbeutung und Unterdrückung der Indigenen durch die kanadische Mehrheitsgesellschaft und die kanadischen Behörden heraus, deren Kulturen er als «grundverschieden» (S. 49)
beschreibt.

Menraths grosse Leistung ist ein gut lesbarer, breit gefächerter und einfühlsamer Text, der mit seinen detaillierten Berichten erschüttert und dem es ein wirkliches Anliegen ist, indigene Stimmen zu Wort kommen zu lassen. Der Hauptteil des Buches besteht aus ausführlichen Zitaten aus über 100 Interviews, die der Autor mit indigenen Personen in Kanada führen konnte und die voller interessanter Beobachtungen und Details stecken. Leider werden nicht alle dieser Passagen mit Fussnoten belegt, sodass oft unklar bleibt, ob es sich um Zitate aus transkribierten Interviews handelt oder ob der Autor die Aussagen aus seinen Erinnerungen rekonstruiert hat, etwa auf der Basis von Tagebucheinträgen. In Anbetracht des kolonialen Kontextes solcher Praktiken, hätte Menrath hier klarer im Text unterscheiden müssen (siehe etwa S. 40). Dies umso mehr, da der Autor in einigen Passagen eine sehr bildhafte, vermeintlich an indigene Ausdrucksweisen angelegte Sprache benutzt (etwa S. 9 f., S. 19), die exotisierend wirkt und unbedingt hinterfragt werden sollte.

Auch wenn Menrath betont, dass es sich nicht um eine «nüchterne wissenschaftliche Qualifikationsschrift» (S. 418) handelt, hätte eine Einordnung der genannten Themen und der Interviews in die aktuelle historisch-ethnologische Forschung zu einem grösseren Erkenntnisgewinn geführt. Wichtige Ereignisse für die indigene evölkerung Kanadas wie das Cypress Hill Massaker, zentrale Akteure wie die RCMP (Royal Canadian Mounted Police) werden nicht behandelt, die Geschichte der Indigenen vor dem 17. Jahrhundert ebenfalls nur marginal. Mutmassungen (etwa S. 106, S. 264) werden nicht belegt, in den relativ spärlichen Fussnoten wird auf wenig und veraltete Literatur verwiesen. Und sollte etwa nicht, wenn das für die Beschreibung der Handelsbeziehungen so zentrale Konzept des middle ground erwähnt wird (S. 94), auf das zugrundeliegende Buch von Richard White1 verwiesen werden? Zudem unterlässt es der Autor, seinem ohne Zweifel sehr wertvollem und interessantem Gesprächsmaterial archivalische Quellen oder bereits existierende Interviewprojekte gegenüberzustellen. Bei Aufbau und Ansatz des Buches verwundert es besonders, dass Menrath in keinster Weise auf die reiche Literatur zur
Dekolonisierung der Geschichtsschreibung in Nordamerika (und der Welt) eingeht,2 eine Auseinandersetzung mit deren Erkenntnissen wäre sehr fruchtbar für das Buch gewesen. Seinem Anspruch, «wissenschaftliche Erkenntnisse mit […] persönlichen Empfindungen zu verbinden» (S. 418, siehe oben), wird er somit nur zum Teil gerecht.

Dass der Autor die Bezeichnung «Indianer» benutzt, wird auf S. 12 problematisiert, wobei Menrath den deutschsprachigen Kontext seiner Nutzung des Begriffs herausstellt und die Schwierigkeit anderer Begriffe betont. Der weit unumstrittenere Begriff «indigen» taucht hier nicht auf, obwohl er auch vom Autor selbst immer wieder genutzt wird (etwa S. 17, 65, 161 etc.). Warum diese unproblematischere Bezeichnung nicht durchgängig benutzt wurde, ist weder ersichtlich noch einleuchtend.

Insgesamt bleibt so bei diesem gut lesbaren, spannenden und interessanten Buch die Fragen offen, ob «[e]infach mal zuzuhören, ohne das Wort zu ergreifen» (S. 255, siehe auch S. 13–15) reicht, um die kolonialen Strukturen zu durchbrechen, die der Autor (zu Recht) vehement kritisiert.

Anmekrung:
1 Richard White, The Middle Ground. Indians, Empires and Republics in the Great Lakes Region, Cambridge MA 1991.
2 Siehe einführend: Linda T. Smith, Decolonizing Methodologies. Research and Indigenous Peoples, London 2012; Susan A. Miller, Native Historians Write Back. The Indigenous Paradigm in American Indian Historiography, in: Wicazo Sa Review 24/1 (2009), S. 25–45.

Zitierweise:
Schmitz, Yves: Rezension zu: Menrath, Manuel: Unter dem Nordlicht. Indianer aus Kanada erzählen von Ihrem Land, Berlin 2020. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 71 (3), 2021, S. 510-512. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00093>.